«Du siehst mich!»
Auch in der Anonymität der Grossstadt geht der Einzelne bei Gott nicht unter.
Die Designerin Eva Jung inszeniert die Jahreslosung 2023 kontrastreich. Der Passant könnte zwischen den mächtigen Säulen einfach untergehen. Doch der Blickwinkel setzt die herausragenden Hosenbeine in den Fokus. Wir sehen ihn, den Menschen zwischen den Säulen. Gott sieht ihn auch.
Und genau das ist der Wunsch vieler Menschen: gesehen zu werden, wahrgenommen zu werden. Der Wunsch ist ein zutiefst menschliches Bedürfnis. Egal ob über Instagram, bei der Arbeit, auf dem Klassenfoto oder beim Mannschaften-Wählen im Sportunterricht: Wir wollen gesehen werden. Wir wollen wahrgenommen werden, mit dem, was wir können und leisten, was wir erleben, was wir fühlen und auch mit dem, was uns bewegt. Wenn mich niemand sieht, wenn mich keiner wahrnimmt, dann geht es mir schlecht. Die Jahreslosung 2023 legt den Fokus genau darauf: dass Gott mich sieht, mich wahrnimmt, dass ich Gott nicht gleichgültig bin.
Wie geht es Ihnen beim Lesen dieses Verses? Fühlen Sie sich von Gott wahrgenommen? Fühlen Sie sich von ihren Mitmenschen wahrgenommen oder gesehen? Die Bibel hat zur Jahreslosung ihre ganz eigene Aussage: Die Jahreslosung steht im Buch Genesis, auf den ersten Seiten der Bibel. Dort werden Geschichten von Menschen erzählt, die sich lieben und streiten, von tödlicher Eifersucht, komplizierten Familienverhältnissen, von Lug und Trug, von Scheitern und Neuanfängen. Mit diesen uns in vielem so ähnlichen Menschen schreibt Gott Geschichte(n). Mit Menschen, die glauben und zweifeln. Mit Menschen, die sich an seine Verheissungen klammern, auch wenn sie lange auf ihre Erfüllung warten müssen. Wie Sie und ich. Der Bibelvers ist die Quintessenz zweier Menschen und zweier Geschichten: eine Frau, ein Mann. Der Erzvater Abram und die Magd Hagar. Sie sind auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden. Am Schluss sind es zwei je eigene Situationen, die auswegloser nicht sein könnten (Genesis 16 und 22). Und dann sendet Gott mitten in die Not dieser beiden Menschen jeweils einen Engel, der beide – so unterschiedlich sie auch waren – am Ende sagen lässt: Ich habe einen Gott, der mich sieht!
Für das Jahr 2023 wünsche ich Dir einen Gott, der Dich sieht. Der Dich wahrnimmt in all Deinem Tun, im Arbeiten, Helfen, Krampfen und Lieben. Und ich wünsche Dir Mitmenschen, die Dich ebenfalls sehen, und damit Gott in Deinem Alltag spürbar wird: die tägliche Beachtung, nach der wir uns im schnelllebigen und oft stressigen Alltag sehnen. Gottes Segen im Neuen Jahr, auch im Namen meiner Pfarrkollegen, der Kirchenpflege und aller Angestellten.
Pfrn. Julia Matucci-Gros